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21.02.25 - 09:00

Starke Worte, tiefe Gefühle...

Ulrich Kühn spricht im Nachtcafé

Er ist Redakteur beim NDR, Autor, Moderator und eloquenter Redner: Ulrich Kühn, der am Freitag, den 14.2. im MARKUS Nachtcafé sprach, hat uns mit seinem Gedankenimpuls über "Verletzlichkeit" verzaubert und zum tiefen Nachdenken angeregt. Auf vielfachen Wunsch aus dem Publikum möchten wir seinen Text hier zum Nachlesen veröffentlichen.
Danke, Ulrich Kühn, dass Sie ihn uns zur Verfügung stellen!

Vom Verlust der Verletzlichkeits-Balance
von Ulrich Kühn

Schubert also. Der so blutjung gestorben ist, mit 31. Der auf rätselhafte Weise diese Überfülle geschaffen und hinterlassen hat: Ton an Ton über Ton, Motiv, Melodie, Akkord, Harmoniefolge; und immer singt eine menschliche Seele, bebend in einer Lebendigkeit, die gar nicht sterben kann, jetzt und in hundert Jahren nicht. Sie tut etwas in uns auf, wenn wir uns öffnen wollen und uns noch öffnen können; wenn wir das eindringen lassen und im Innersten, wo die letzten Rätsel des Menschseins wohnen, die niemand lösen kann, als Menschen uns antasten lassen.

Schubert also. Der Eindringling, der Antastende. Der Zarte, Zärtliche. Der als Zart- und Zärtlichmacher uns in Resonanz bringt mit der Empfindsamkeit.

Als ich Anfang zwanzig und eine Zeit lang nicht glücklich war, spazierte ich abends manchmal durch Berlin und sang dabei vor mich hin: Schubert-Lieder, vorzugsweise aus der Winterreise und der Schönen Müllerin. Das war, von außen betrachtet, einigermaßen skurril, wie aus der Zeit gefallen. Für mich ein bittersüßes Erleben: In die Verletzung hinein und aus der Verletzung heraus, die ich da durch die Straßen schleppte, drangen diese Töne, die von Verletzlichkeit sprachen; und indem sie meine kleinen Wunden erst richtig zum Blühen brachten, fingen sie auch schon an, sie zu heilen.

So ein persönliches Bekenntnis wirkt befremdlich. So befremdlich vielleicht, dass man wegschauen möchte: Muss das jetzt wirklich sein? Ich verspreche, es kommt nicht wieder vor. Ich fand es dennoch passend:
Denn ich will ja über Verletzlichkeit sprechen. Und Verletzlichkeit ist immer persönlich. Zugleich aber ist sie universell.

Kein Mensch – nicht einer, der je auf der Erde war –, ist ohne Verletzung geblieben. Das Leben zum Tode hin reiht Verletzungen auf. Beim einen seltener, bei der anderen häufiger, aber alle erfahren sie, immer neu, immer wieder zu überwinden. Oder unüberwindbar, weil eine Versehrung bleibt oder die Verletzung zu tief greift. Da sind dann bleibende Schäden, Narben. Oder schwärende Wunden. Die lassen sich vielleicht verwinden. Überwinden nicht.

Wenn man anfängt, so über Verletzlichkeit zu sprechen, spricht man immer schon doppelt. In der Wort-Wörtlichkeit, die das Körperlich-Physische meint. Und in der Bildhaftigkeit, die vom Seelisch-Psychischen handelt.

Die Brutalität dessen, was am 13. Februar in München ein einzelner Mensch so vielen seinesgleichen angetan hat, körperlich schwer und Schwerstverletzten, von denen zwei später gestorben sind, ein zweijähriges Kind und seine Mutter: Diese Tat in ihrer Rohheit und ängstigenden Kraft wirkt unmittelbar versehrend. Aber nicht nur die Körper wurden in all ihrer Fragilität getroffen. Die Seelen auch. Und nicht nur die in der Nähe waren, zu Augenzeugen wurden oder helfen konnten, sind Getroffene im Innersten der Psyche.

Auch wer aus der Ferne mitfühlt, fühlt in der Verletzlichkeit der anderen die eigene. So entsteht Mit-Leid, für Gotthold Ephraim Lessing die Meta-Tugend: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch.“ Aber auch die Furcht kann wachsen. Wachsen können Abwehr, Zorn oder Wut. Und gefüttert wird Hass.

Denn wo immer Verletzlichkeit ist, sind Gefühle im Spiel. Und wo Verletztheit akut wird, setzen Gefühle auf Zeit die Ratio außer Kraft. Dann geht es vielleicht nicht mehr nur um verletzte Individuen. Verletztheit als starkes Gefühl kann sich vom Individuum lösen, sie kann zur gemeinschaftlichen Empfindung werden – oder zur gemeinschaftlichen Ein-Bildung.

Ein Gedanke, dem man sich vorsichtig nähern muss. Verletztheit, besagt er ja ungefähr, kann Empfindungen einer ganzen Gruppe tragen. Vielleicht sogar einer ganzen Gesellschaft. Wenn das aber so ist, dann wird zweierlei möglich – etwas Bedrohlich-Eigenartiges und etwas zumindest Bemerkenswertes:

Das menschlich Zarte, Liebenswerte, diese Fähigkeit, etwas eindringen und sich von ihm antasten zu lassen: Das kann umschlagen, geradezu umgestülpt werden in gegenläufige Gefühle, die das Mitleid loswerden wollen. Aus der kollektiv empfundenen Verletztheit wächst dann die Bereitschaft zu verletzen. Und hat sich diese Bereitschaft erst ausgefaltet – dann geht es vielleicht nicht mehr nur darum, die eigene Verletzlichkeit auszutreiben wie einen psychischen Dämon. Dann geht es darum, „die anderen“, von denen vermutet oder fantasiert wird, dass sie Verletzung zufügen könnten, physisch loszuwerden, und koste es Ratio und Gesetz. Jetzt müssen „die endlich alle raus“, ohne individuelle Rücksicht – zugunsten der Fiktion, es gäbe das ganze eigene Leben ohne Verletzlichkeit.

Dies ist, und das wäre mir wichtig, kein naiv-idealistisches Plädoyer gegen eine realistische, Fehlentwicklungen ins Kalkül ziehende, akute Bedrohungen des Zusammenlebens und gesellschaftlichen Zusammenhalts in den Blick nehmende Politik. Es ist nur der erste Teil des Versuchs, ganz offen-spekulativ der Frage nachzuspüren, wie Verletztheit, Verletzlichkeit und die Bereitschaft zu verletzen zusammenhängen könnten.

Der zweite Teil ist genauso heikel. Ich setze eine plakative These darüber:

Unsere Gesellschaft hat ihre Verletzlichkeits-Balance verloren

Wie ist das gemeint? Etwa so: In einer Richtung neigen Teile der Gesellschaft zu rohen Gefühlen und Handlungen, Projektionen von Austreibung sogar, zum unverhohlenen Wunsch nach Restauration früherer, angeblich problemfreier Zustände um fast jeden Preis. Das korrespondiert an der Oberfläche mit der entsetzlichen Gewalt mörderischer Anschläge, die fürchterliche Realität sind. In tieferen Schichten fördert es Impulse eines Gefühlslebens zutage, das die Verletzlichkeit loswerden will, indem es sie in Aggression umstülpt. Diese Impulse können gesellschaftszerstörend wirken.

In der anderen Richtung neigen Teile der Gesellschaft zur Verabsolutierung von Verletzlichkeit: Wer immer sich als verletzlich zu Wort meldet, darf dann per se Rücksichtnahme beanspruchen. Oder sogar gesetzlichen Schutz. Und auch das ist ein Indikator für einen Verlust der Balance.

Dabei wirkt es zunächst ja einfach menschenfreundlich. Und man sollte auch keinesfalls pauschal Übles unterstellen: Gruppen, die ihre Zugehörigkeit und Identität respektiert wissen wollen, ihr Erleben als Minderheiten in der Mehrheitsgesellschaft, ihre Erfahrung von Diskriminierung: Solchen Gruppen schlankweg zu unterstellen, sie wollten doch nur ihre Interessen vorantreiben, das ist bösartig kurz gegriffen. Auffällig ist zugleich allerdings auch, dass solche Schutzbedürfnisse in jüngerer Zeit vermehrt und von immer mehr Gruppen angemeldet werden; und dass sie hier und da nicht frei von einer moralischen Aufladung bleiben, die auch strategisch genutzt wird – mitunter von Dritten, die sich vielleicht im Sinne eines Statussymbols damit schmücken, auf der richtigen Seite zu stehen. Von „Moralspektakel“ spricht der Philosoph Philipp Hübl in diesem Zusammenhang. [s. Anmerkung am Ende]

Die Rechtsphilosophin und Strafrechtsprofessorin Frauke Rostalski hat über das Vordringen einer neuen Verletzlichkeit in unsere Gesellschaft ein lesenswertes Buch geschrieben: „Die vulnerable Gesellschaft – Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit“.

Der Gedanke, dem sie folgt, ist interessant: Wenn Verletzlichkeit überbordend um sich greift, könnten am Ende alle verlieren. Frauke Rostalski sagt es so:

„Alle verlieren Freiheit, auch die Vulnerablen, wenn der Staat eingreift."

Diese neue, „besondere“ Verletzlichkeit, erklärt sie, hat schon Spuren im Strafrecht hinterlassen, auch überraschende. Ein Beispiel: Vor rund zwei Jahrzehnten wurde der Schutz der Ehre „zunehmend als überflüssig eingestuft“. Man empfand es wohl, so kann man das deuten, als Ausweis des Fortschritts einer gereiften Gesellschaft, wenn der Schutz der „Ehre“ – die ja schon als Wort hübsch altertümlich tönt – nicht im Vordergrund moderner rechtlicher Überlegungen steht. Er wurde jetzt eher als eine Privatangelegenheit verstanden. Beleidigungsdelikte könnten deshalb aus dem Strafgesetzbuch verschwinden – so der Gedanke. Es ist dann ganz anders gekommen. Natürlich, es hat sich auch viel verändert: Soziale Medien sind zum Pestplatz für Beleidigungen aller Arten geworden, und das kann nicht unbeantwortet bleiben. Aber das ist eben nicht die ganze Geschichte. Rostalski:

„Je verletzlicher sich Menschen begreifen, desto gewichtiger kann ihnen das Unrecht erscheinen, das in Beleidigungen und anderen Angriffen auf die Ehre zum Ausdruck kommt“. Der Zunahme an – auch nur verbalen – Verletzungen korrespondiert eine wachsende Bereitschaft, sich verletzen zu lassen. Wo diese Entwicklung Akzeptanz findet, wird Verletzlichen Schutz gewährt – auch per Gesetz. Wo aber etwas rechtlich reguliert wird, wird ein Spielfeld enger: Wenn etwas strafbewehrt ist, verkleinert sich der Freiheitsraum.

Der Schutz für Individuen und Gruppen kann so in eine Art Zielkonflikt mit der Freiheit aller geraten. Und das könnte nun in der Tat ein Indiz dafür sein, dass wirklich etwas aus der Balance ist: Wenn in einer demokratischen Gesellschaft der Freiheitsraum aller kleiner wird, ist davon notwendig auch jenes Spielfeld berührt, das eine Demokratie zu ihrem Überleben braucht: der freie Diskurs.

Dieses Argument wird oft genug missbraucht und instrumentalisiert. Doch das ändert nichts am Befund: Verkleinerte Freiheitsräume haben Einfluss auf den Diskurs. Man kann sagen: Wer schützen will, tastet auch an. Wie kommt man aus diesem Dilemma?

Wenn meine plakative These stimmt, dass die Gesellschaft ihre Verletzlichkeits-Balance verloren hat – indem der wachsenden Bereitschaft zu Aggression und Hass eine Über-Verletzlichkeits-Empfindlichkeit gegenübersteht: Dann käme es, das ist klar, darauf an, die Balance zurückzugewinnen.

Zum Glück gilt dabei kein Entweder-Oder: Rücksichtnahme auf Verletzlichkeit oder rücksichtsloses Darüber-Hinwegtrampeln. Es wäre ja völlig grotesk, eine Über-Verletzlichkeit durch eine Über-Verletzungsbereitschaft ausgleichen zu wollen. Auch wenn manche zu glauben scheinen, dass das funktioniert.

Viel sinnvoller wäre es, beides, Verletzlichkeit und Ruppigkeit, auf ein zuträgliches Maß zurückzuführen. Das erfordert Bereitschaft auf allen Seiten. Vielleicht auch mehr Toleranz, als aufzubringen jetzt manche bereit sind.

Der Historiker Timothy Garton Ash hat 2016, als Rohheit und Empfindlichkeit längst besorgniserregend wuchsen, zumal im Internet, einen Vorschlag gemacht. In seinem Buch „Redefreiheit“ hat er für eine „robuste Zivilität" plädiert: keine Über-Verletzlichkeit und kein allzu aggressiver Verletzungswille. Im Moment wirkt das wie eine Utopie. Doch es gibt keinen Grund, sie aufzugeben.

Mein Beweis ist – das Grundgesetz. Es beginnt mit dem sensationellen Satz:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Jeder Mensch weiß, dass das keine Realitätsbeschreibung ist. Die Würde wird täglich angetastet, oft auf grausamste Art. Der großartige Satz ist etwas anderes, eine Selbstverpflichtung und eine Verheißung: So wollen wir es hier halten.

Wenn die Grenzen des Körpers leidlich unversehrt sind, fließt, als Bedingung des Lebens, der Atem zwischen außen und innen. Wenn wir innen unversehrt sind, fließt er in ruhigen Bögen. Atmende Musik, die uns in Kontakt mit der Verletzlichkeit bringt, indem sie uns antastet – um uns unserer Würde zu versichern: Sie schützt die Unversehrtheit in aller Verletzlichkeit. Ob in den Farben des Windes, den „Couleurs du vent“, wie sie vorhin in allen Farben der Flöte, vom Atem getragen, durch den Raum wehten, ob im wortlosen Gesang eines Impromptus. Der Verletzlichkeit sich öffnen, um Versehrtheit zu heilen: Das Paradox der Musik. Wie im Schubert-Lied „Auf dem Wasser zu singen“:

„Ach, auf der Freude sanft schimmernden Wellen
Gleitet die Seele dahin wie der Kahn.“


Erwähnte Bücher:
Frauke Rostalski, Die vulnerable Gesellschaft. Die neue Verletzlichkeit als Herausforderung der Freiheit (Edition Mercator), Verlag C. H. Beck, 2024
Philipp Hübl, Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht, Siedler Verlag, 2024
Timothy Garton Ash, Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt, Hanser Verlag 2016

© by Ulrich Kühn, 2025