MENSCHLICHKEIT. Das grüne Festival #1

  • 03.09.21 - 18:00 Uhr, Christuskirche Hannover
  • Programm
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  • Eröffnungskonzert "Kultur ist Gedächtnis...",

    Giovanni Gabrieli (1557-1613), Canzoni per sonar a quattro für Ensemble

    Begrüßung und Kurzvortrag:
    Nachhaltiges Musizieren, Menschenrechte und der Ozean – wie geht das? 

    Ying Wang (*1976), DELETE [sic!] für Sprecherin und Ensemble (UA)                    

    Ludwig van Beethoven (1770-1827), 1. Sinfonie C-Dur op.21

    anschließend:
    Umtrunk und Slow Food vor dem Gebäude 

    Lini Gong. Sprecherin
    musica assoluta
    Thorsten Encke. Dirigent

  • Über Ihr neues Werk DELETE [sic!], das sich mit zwei Artikeln der UN-Menschenrechtscharta beschäftigt, schreibt die chinesisch-deutsche Komponistin Ying Wang:

    [Article 18]
    1. Everyone shall have the right to freedom of thought, conscience and religion (...)

    [Article 27]
    In those States in which ethnic, religious or linguistic minorities exist, persons belonging to such minorities shall not be denied the right, in community with the other members of their group, to enjoy their own culture, to profess and practise their own religion, or to use their own language.

     

    “Everyone shall have the right to freedom of thought”- Erinnerungen sind ebenso Gedanken. Kollektives Gedächtnis ist Kultur. Was aber wenn Erinnerungen und Kultur durch Propaganda und institutionalisiertes systematisch gelenktes Brain-washing verändert werden? Angeordnetes und aktiv umgesetztes Vergessen. Verschwiegen. Wenn Kulturen systematisch einer anderen angeglichen werden. Auch das ist ein Entzug von Freiheit. Auch wenn es ohne Gewalt und Folter geschieht.

    Kollektives Gedächtnis ist Kultur. Kultur ist Gedächtnis.

    Wieviel Vergessen verträgt eine Kultur, und wann überschreitet die Vergesslichkeit die Grenzen der Moral? „Braucht“ eine Kultur auch das Vergessen?

    Unsere Erinnerungen sind vor uns nicht sicher. Sie vermischen sich mit Wünschen, vielleicht sogar mit Lügen. Manche davon nehmen wir gern an. Als Staat und als Individuum. Ein Teil unseres Lebens ist von uns selbst erfunden, ein Teil von der Kultur, ein Teil von „Gesellschaft“ - Erinnerungen, medial implantiert, zensiert von Manipulationsdiktaturen.

    Was wäre, wenn wir nicht vergessen könnten. Wir wären auch vor Manipulation geschützt. Die totale Verfügbarkeit der Vergangenheit könnte unseren Blick auf uns selbst verändern. Das selbst Erlebte zu vergessen, ist etwas anderes als es nie erlebt zu haben. Ein Rest bleibt immer. Das für immer verlorene – es kann in unserer Erinnerung verfremdet weiterleben.

    Was ihr nun hören werdet ist unvollkommen und bruchstückhaft. Ohne euch existiert es nicht. Es aktiviert diese Reste, Erinnerungen, und öffnet Räume für das Eigene.

    Die Komposition für Ensemble und Elektronik ist wie ein Abbild menschlichen Widerstands gegen das Vergessen, mein in Musik gefasstes und festgehaltenes Gedächtnis - wider der Infiltrierung falscher Ideen, gegen Verblassen und Zerfall. Es ist mein Aufschrei, mein Zorn angesichts gelöschter Wahrheiten und aktiv gesteuertem Vergessen.

    Solistische Klangpaletten stehen in Widerspruch zu kammermusikalischen Instrumentengruppen. Eine zentrale instrumentale Solistengruppe provoziert, kämpft an, um das Löschen, den Zerfall ins Bruchstückhafte, ins Fragmentierte, zu verhindern. Ähnliches Material taucht dabei beständig wieder und wieder auf, verfremdet durch den Prozess des Vergessens und verfremdet durch das aktive Erinnern – in komponierter Weise musikalisch, aber auch durch kurze formale Momente der Offenheit, in denen eigene Erinnerungen der Hörenden in das Stück miteingebunden werden. Im Verlauf des Stückes wird das private Vergessen immer stärker vom öffentlichen Vergessen mitgerissen. Beidem setzen die Solisten musikalisch und strukturell anhaltenden Widerstand entgegen. Das Stück selbst wird zu einem Protest - so lange ich mich erinnern kann, dass ich vergessen habe.

    Ying Wang

     

    Ursprünglich 1608 in einem Sammelband unter dem Titel "Canzoni per sonar con ogni sorte di stromenti“ („Kanzonen in beliebiger Instrumentalbesetzung“) erschienen, standen Gabrielis Werke damals in ihrer Art kaum für sich allein. Ähnlich dicht „bevölkert“ liest sich seine Biographie: Geboren um die Mitte der 1550er Jahre in Venedig in eine Musikerfamilie, stand Giovanni Gabrieli bereits früh in Kontakt mit diversen Künstlern und Musikern seiner Zeit, deren Namen bis heute kaum an Ruhm und Bekanntheit verloren haben.
    Während seiner Kindheit war sein Onkel Andrea Gabrieli Organist am Markusdom, dessen hauptamtlicher Kapellmeister damals Adrian Willaert war, eine äußerst renommierte Persönlichkeit in der Epoche der sogenannten frankoflämischen Vokalpolyphonie – also eines Stils, der große Maßstäbe für das Komponieren von jeglicher mehrstimmiger Musik in Westeuropa im ausgehenden Mittelalter und der Renaissance setzte –, und gemeinsam mit Hans Leo Hassler studierte der junge Giovanni Gabrieli in München bei Orlando di Lasso, einem der großen Madrigalkomponisten. Nach seiner Rückkehr 1580 nach Venedig und Veröffentlichung seiner ersten eigenen Madrigalsammlung wurde er schließlich 1585 neben seinem Onkel Andrea Zweiter Organist am Markusdom und folgte ihm nach dessen Tod bald auf die Stelle des Hauptorganisten. Die architektonischen Besonderheiten des Markusdoms erlaubten ein Florieren eines ganzen Stils: der Venezianischen Mehrchörigkeit, bei der theoretisch beliebig viele Stimmen oder Instrumente sowohl nebeneinander in einer Reihe (mit mehreren „Hilfsdirigenten“ für besseren Blickkontakt) als auch auf verschiedenen Emporen einander gegenüber musizieren konnten. Überlieferungen lassen teilweise auf bis zu 22 Stimmen schließen!

    Gabrielis Kompositionen erfreuten sich ab den 1590er Jahren so großer Beliebtheit, dass es talentierte Schüler aus ganz Europa nach Venedig zog - unter anderem auch den jungen Deutschen Heinrich Schütz, mit dem Gabrieli bis zu seinem Tod freundschaftlich verbunden blieb. Sein Nachfolger am Markusdom wurde niemand anderes als Claudio Monteverdi.

    Heinrich Schütz war es schließlich auch, der Gabrielis Lehren und seine musikalischen Fundamente in sowohl der Großen Venezianischen Mehrchörigkeit als auch im wesentlich intimer gestalteten Madrigalstil in den deutschsprachigen Raum weitertrug. Viele Komponisten deutscher Barockmusik waren in ihrem Stil so letztlich in Traditionen verwurzelt, die auf die venezianische Schule um Gabrieli zurückgingen.

    Die „Canzoni“ des heutigen Abends sind viertstimmige Instrumentalwerke, deren Bezeichnung „Canzon“ noch auf die Wurzeln im Chorgesang schließen lässt. Wie in einer Vokalmotette werden verschiedene musikalische Themen und Gedanken, „soggetti“ genannt, zunächst von einer Stimme vorgestellt und daraufhin kunstvoll imitiert und weiterentwickelt. Verschiedene Abschnitte solcher Imitationsgesänge werden oft durch einen tänzerischen Zwischenteil im Dreiertakt aufgelockert; in einigen Canzonen wird für eine stimmige Gesamtform der erste Abschnitt auch als letzter wiederholt.

    Text: Kari Träder
     

     

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